Wolfgang Grünwald ist seit 29 Jahren als Sportjournalist beim privaten regionalen Fernsehsender „Rhein-Neckar Fernsehen“ in Mannheim tätig. Durch seine langjährige Erfahrung und Expertise in der Sportberichterstattung ist er der ideale Ansprechpartner für meine Fragen zu den Ursachen der häufig einseitigen Sportberichterstattung.
Über welche Sportarten berichten Sie hauptsächlich?
„Aktuell Eishockey (Adler Mannheim), Basketball (MLP Academics BBL) Fußball (Schwerpunkt SV Waldhof). Früher auch Handball (1. und 2. Bundesliga, Rhein-Neckar Löwen und Eulen Ludwigshafen, was mit dem Einstieg von Sky in den Handball und der damit verbundenen Verteuerung der Lizenzkosten beendet werden musste). Eventgebunden covert das Rhein-Neckar Fernsehen auch Reitsport auf dem Maimarkt, Triathlon, Leichtathletik oder Tennis.“
Berichten Sie auch gelegentlich über Randsportarten und Kampfsportarten wie Kickboxen, Karate, Ringen oder Judo?
„Ja. RNF (Rhein-Neckar Fernsehen) begleitet seit fast 20 Jahren die Athletinnen und Athleten des Olympiastützpunkt Rhein-Neckar. Von 2018 bis 2020 sogar mit dem eigenen monatlichen Format "Team Tokio" und ausführlichen Portraits der Sportlerinnen und Sportler mit hintergründigen Informationen über den Sport hinaus (Ausbildung/Studium etc.)“
Empfinden Sie als Berichterstattungsexperte die Sportberichterstattung im Fernsehen als vielfältig?
„Kommt darauf an, was man unter "Fernsehen" versteht. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen öffentlich-rechtlichen Sendern (ARD und ZDF), privaten Sendern und Bezahlsendern. Ungeachtet dieser Differenzierung aber ist das Übergewicht des Fußballs eindeutig. Die großen Turniere wie WM und EM, die nationalen Wettbewerbe bis hinunter in die 3. Liga, Ligen aus anderen europäischen Ländern, die Randberichterstattung über das reine Spiel hinaus. In der ARD und vor allem ihren regionalen Anstalten SWR, BR, WDR etc. finden allerdings auch andere Sportarten statt, gelegentlich auch mal als Live-Übertragung wie zum Beispiel das Springreiten in Aachen (WDR). Die muss man allerdings suchen, in der Prime-Time findet man sie so gut wie nie. Für die privaten Sender und erst recht für die Bezahlsender ist die Fixierung auf Fußball quasi logisch, weil damit die höchste Reichweite hergestellt wird, was über den Verkauf von Werbezeit nicht nur das für die Lizenzrechte investierte Geld reinholt, sondern vermutlich auch gewinnbringend. Das war in den 90er-Jahren bei RTL auch im Boxen der Fall war. Für die Bezahlsender ist das Geschäftsmodell ohnehin ein anderes – die holen sich ihre Einnahmen direkt über die Abos.“
Was ist wohl die Ursache dafür, dass ein Großteil der öffentlich-rechtlichen Medien immer über die gleichen Mega-Sportarten berichtet, trotz ihres Auftrags, ein inhaltlich ausgewogenes Programm ohne Rücksicht auf Einschaltquoten zu erstellen?
„Das ist eine Frage, die man eigentlich ARD und ZDF stellen muss. Ich kann hier nur Vermutungen anstellen. Auch hier geht es letztlich wohl um Reichweite und damit Werbeeinnahmen (Bsp. ARD-Sportschau). Ein Kameramann des SWR sagte mir mal, dass die Sportsendung am späten Sonntagabend (in diesem Fall SWR Baden-Württemberg) immer dann sofort an Quote verliert, wenn etwas anderes als Fußball gezeigt wird. Eine weitere Vermutung: Auch für viele Journalisten ist Fußball sozusagen "naturwüchsig" die Nummer 1. Die jüngeren sind mit dem Übergewicht des Volkssports aufgewachsen, oft fehlen einfach Kenntnisse in anderen Sportarten, zumal das Regelwerk einfach zu verstehen ist. Darüber hinaus verspricht ihnen die Plattform Fußball mehr Bekanntheitsgrad als andere Sportarten.“
Haben Sie eine Vermutung, weshalb so wenig über Kampfsport berichtet wird?
„Ein Individualsport braucht Gesichter, um Reichweite zu bekommen. Das Boxen in seiner Glanzzeit hatte große Namen, die alle kannten, zum Beispiel Ali, Foreman, Frazier, Tyson und Klitschko. Auch ein Maske zählt dazu. Oder Rocchigiani. Bei diesen Kämpfen verdiente sich RTL eine goldene Nase mit dem Vertrieb der Werbezeiten. Diese Typen müssen für etwas stehen, brauchen also ein Image, das Menschen anspricht. Bestes Beispiel ist das Duell Maske - Rocchigiani: Good guy – bad guy. Oder Ali – Foreman: Rumble in the jungle in der 70er-Jahren. Ali stand für Eleganz und gesellschaftliche Emanzipation, Foreman für Schlagkraft und gesellschaftliches Establishment. Ohne ein professionelles Management, das diese Eckdaten erkennt, kommt keine Reichweite auf.
Kampfsport hat einen gesellschaftlichen "Stallgeruch", oft in Verbindung mit einer (manchmal tatsächlichen, manchmal vermuteten) Nähe zum Milieu. Das erschreckt meiner Meinung nach nicht wenige Menschen. Für andere wiederum hat genau das aber auch etwas Faszinierendes – ob das aber mehrheitsfähig ist, wage ich zu bezweifeln.“
In welcher Form spielen die Sportverbände der Kampfsportarten eine Rolle in derProblematik?
„Auch da kann ich nur Vermutungen anstellen. Beispiel Profiboxen: WBA, WBC, IBF, WBO. Man verliert den Überblick, wenn man sich nicht in der Szene auskennt. Das schmälert das Interesse vermutlich. Denn eine Grundregel lautet: Je mehr Kenntnis von einem Thema, desto mehr Interesse. Wenn ich als Zuschauer erstmal eine Internet-Suchmaschine aktivieren muss, um zu wissen, wer bei welchem Verband in welcher Gewichtsklasse gerade eine große Hausnummer darstellt, ist es oft schon zu spät. Darüber hinaus: Vier "Könige" bedeuten Inflation. Und das heißt Wertverlust. Gerade in Individualsportarten und im Kampfsport obendrein sollte es den "Chef im Ring" geben. Usain Bolt war nicht der schnellste 100-Meter-Sprinter eines Verbandes, sondern der Welt. Aber da die Aufsplitterung bereits in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann, ist daran vermutlich nicht zu rütteln. Auf der HP von Sport1 habe ich das hier gefunden: „Der Grund für die hohe Zahl der Verbände ist, dass diese eher als gewinnorientierte Unternehmen verstanden werden, denn als sportliche Verbände. Die Gebühr der Verbände beträgt üblicherweise drei Prozent der Kampfbörse. Daher haben die Boxverbände ein Interesse dran, möglichst publikumswirksame Boxer gegeneinander antreten zu lassen. Diese garantieren die höchsten Einnahmen.“ Publikumswirksam bedeutet meines Erachtens nach nicht immer sportlich hochwertig. Wenn also die sportliche Qualität nur die zweite Geige hinter der Show spielt, wird es vermutlich schwer für Akzeptanz und damit Reichweite. Das "Wrestling" ist letztlich nur die "Vollendung" dieser Entwicklung – Show um der Show willen.“
Worin sehen Sie eine Möglichkeit, den Kampfsport populärer zu machen?
„Zunächst mal ist der Kampfsport selbst in der Pflicht: Nachwuchsarbeit unter Betonung der positiven Effekte, den viele Kampfsportarten ja haben (Selbstverteidigung, Selbstbewusstsein, Selbstbehauptung, i.d.R. hohe kognitive Geschwindigkeit, Fitness, Gemeinschaftsgefühl für Kinder und Jugendliche in einem vielleicht schwierigen sozialen Umfeld, Abbau von Vorurteilen oder sogar rassistischen Grundmustern etc.:) Es geht um die Herausarbeitung der positiven Seiten. Zweitens: Sportlicher Aufbau von Talenten mit parallel proaktiver Kontaktierung der lokalen/regionalen Medien. Redaktionen sind immer dünner besetzt, weil die klassischen Werbeeinnahmen deutlich geringer ausfallen als früher. Also ran an die Journalisten mit guten Gründen, sich ein Talent mal anzuschauen. Konkret nachfragen, ob es Ansprechpartner für Kampfsport gibt. Angebote für Journalisten machen und sie neugierig machen. Nicht warten, dass sie von alleine kommen. Journalisten müssen heutzutage so viel im Blick haben, Organisation von Fightnights lokal/regional, mit viel Klasse und wenig Masse. Drittens: Aufbau eines Images (siehe Oben), im Idealfall zuerst unter Nutzung der vielen Plattformen in den Sozialen Medien. Ein gewisser Bekanntheitsgrad auf diesen Plattformen schadet nicht, wenn man es ins TV schaffen möchte. Eine Randsportart einfach vorzustellen, bringt überhaupt nichts. Man sagt, dass XY eine Randsportart ist – und damit bleibt XY auch eine Randsportart. Als RTL in die Live-Übertragung des Skispringens eingestiegen ist, hatte das einen einfachen Hintergrund: Die Adler waren als "Marke" quasi schon bekannt. Und damit das Potential, daraus etwas zu machen. Als das Potential aufgebraucht war zog sich RTL dann ja auch wieder zurück.“
Hat sich die Sportberichterstattung durch die Corona-Situation verändert? Wenn ja, wie?
„Ja, sie hat sich verändert. Erstens: Dadurch, dass viel Sport abgesagt wurde, ist der Umfang geringer geworden. Wenn die DEL (Deutsche Eishockey Liga) ihre Saison abbricht vor den Playoffs wie 2020, fällt die entscheidende Saisonphase eben im TV aus. Da damit wichtige Werbeeinnahmen beispielsweise für die Sender wegbrechen, zwingt das zur Kostenreduktion. Das heißt, der Umfang der Berichterstattung, auch über andere Sportarten und Themen, nimmt i.d.R. ab. Zweitens: Der Sport hatte und hat auf vielen Ebenen mit Corona zu kämpfen. Heißt, der Inhalt der Berichterstattung ändert sich. Nicht mehr die sportlichen Aspekte stehen allein im Mittelpunkt, sondern vermehrt auch Themen wie Infektionsrisiken bei sportlichen Veranstaltungen und deren ethische Bewertung, tatsächliche Infektionen, Krankheitsverläufe, Rekonvaleszenz, wirtschaftliche Folgeerscheinungen für Clubs oder Verbände, wenn Veranstaltungen oder Wettbewerbe gecancelt werden müssen.“
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